Befreiung bedeutet: Identifikation erkennen und offenlegen, statt mit ihr identifiziert zu sein. Identifikation findet im Prozess der Selbstwerdung natürlicherweise statt. Sie ist kein Feind, der besiegt oder überwunden werden muss. Und doch kann das mit sich selbst identifizierte Wesen nicht erkennen, was der Identifikation zugrunde liegt, weil es nicht erkennt, dass es auf sich in der bereits bekannten Form besteht. "Meine" Vergangenheit kann sich nicht erlösen, solange ich darauf bestehe dass die welt den schmerz meiner Vergangenheit anzuerkennen hat, bevor ich ihn loslassen kann. So funktioniert es nicht. So kann es nicht funktionieren. Identifikation ist der Prozess, durch den ich als „Jemand“ in konkreter Form zu mir komme. Anderenfalls wäre ich nicht aufgetaucht. Anderenfalls wäre hier niemand, der anfangen könnte, unter seiner Begrenztheit zu leiden. Aber es ist eben nicht genug, immer wieder nur zu leiden. Es gilt zu erkennen, dass fast alles Leid rekapituliertes Leid ist, Leid an dem ich meine Identität festmache, Leid das zu mir geworden ist und so wie meine Arme oder Beine zu mir gehört. Niemand ist in der Lage, dich erkennen zu lassen. Wenn du so bleiben willst, wie du dich kennst ist das vollkommen in Ordnung. Die einzige Frage ist: Ist es wirklich in Ordnung für dich? Dann leidest du nicht an deiner Vergangenheit sondern hältst die dir bekannten Gefühle für deine "wahre" Natur.
Die übermäßige Verhaftung mit der Form hemmt das Leben, da die ständige Reidentifikation mit der kleinstmöglichen Form zu einer Lebenswirklichkeit führt, die anfängt, sich vor dem Leben zu fürchten. Diese Spaltung vernimmt sich als Enge und als Schmerz. Dieser Schmerz muss zutage treten und wenn du ihn nicht mehr verheimlichen kannst, ruft er dich zur Umkehr und Einsicht auf. Die Einsicht markiert den Wendepunkt, den Anfang wahrer Selbstentdeckung, die nicht unentwegt an Erfahrungen und rekapitulierten Empfindungen hängenbleibt, sondern zum eigentlichen des Lebens vordringt: Zu sich selbst in unbeschriebener Form.
Im wirklichen zu-sich-kommen wird Identifikation als die eigentliche und einzige Begrenzung erkannt, die mich an das Gravitationsfeld des Körpers gebunden hält und mich in gedanklich-emotionaler Form unentwegt um dieses Zentrum kreisen lässt. Diese fortwährende Selbstumkreisung trennt mich vom kosmischen Selbsterleben. Kosmisch erlebe ich mich dann, wenn ich den Körper als das Werkzeug verwirkliche, durch den der Kosmos zu sich kommt bzw. in mich eintreten kann. Der Körper ist der Anker und die Tür. Durch ihn tritt das Leben in sich selbst ein. Damit „dient“ der Körper dem Leben als Werkzeug für die kosmische Selbstentdeckung. Aber ist er nicht, worum sich das Leben dreht …
Und so ist es bereits: Aus der kleinen Form wird in die Welt gesehen, gefühlt, gehört und gedacht. In der kleinen Form bildet sich das unstillbare Verlangen, zu etwas aufzubrechen, was sich selbst nicht mehr begrenzt, also zu etwas, was mich in gedanklich-emotionaler Form bei weitem übersteigt. Das ist der Anfang, der Weckruf: Aus der kleinen Form bricht es ins Ungewisse auf. Ein erster Vogel singt in mir …