Sisyphus

Diesem Transkript liegen am 28.09.2023 auf Kreta gesprochene Worte zugrunde


Von hieraus geschaut, von hier wo wir sitzen, sieht es so aus, als müssten wir die Wolken am Himmel beiseiteschaffen, um das Blau des Himmels sehen zu können. – So viele Wolken, die ich auflösen muss, damit ich sehen kann. Glaube ich. Und dann sehe ich, wie es wirklich ist. Und sehe von oben. Ich sehe den hell erleuchteten blauen Himmel, in dem die Wolken ziehen.

 

Jetzt verstehe ich und sehe vielleicht sogar ein, wie es sich in Wirklichkeit verhält. Von unten geschaut, aus der Relativität, aus der Begrenztheit der Person, scheint über mich ein Himmel gespannt zu sein, der viel zu bewölkt, viel zu dunkel, viel zu vielschichtig ist. Und ich glaube, dass meine Aufgabe daran besteht, die Wolken aufzulösen, um zum Blau des Himmels vorzudringen. – Das ist Sisyphusarbeit, weil immer neue Wolken kommen werden – oder auch nicht. Das liegt nicht in unserer Hand. Das ist eine sehr große und erleichternde Einsicht, dass es nicht in unserer Hand liegt, dass wir es nicht tun und nicht nicht-tun können. Aber wir, wir tun unentwegt. Wir arbeiten an der Auflösung unserer Probleme und bekommen dadurch immer größere Probleme. Wir wollen etwas tun, was nicht geht, was nicht funktioniert. Das ist der Sisyphus in uns. Er sieht es nicht ein. Er tut immer wieder dasselbe, sein ganzes Leben lang. Völlig ermattet und ergraut wird er am Schluss vom Stein überrollt.

 

Ein vergebliches Leben ist ein Leben, das sich niemals öffnen konnte, um das, was ist, in aller Klarheit zu sehen. Ein vergebliches Leben ist ein Leben, das den Stein niemals hat einfach einen Stein sein lassen. Statt wirklich zu empfangen, zu spüren und bereit zu sein – Schattenarbeit. Bewusstseinsarbeit. Auf jeden Fall Arbeit. Ist es keine Arbeit, dann ist es nicht gut. Ich arbeite an mir. Ich arbeite mit mir…

 

Jetzt lege ich die Schaufel aus der Hand und schau mir erst einmal die Situation an. Was tue ich da eigentlich? Die Frage ist: Wer tut das? Was ist das für ein kleiner gefangener Mensch, der unaufhörlich dasselbe tut, bis zum Schluss, bis er nicht mehr kann, bis er erschöpft ist? Das kann ich einsehen, das kann ich unmittelbar einsehen. Ich bin so hell, dass ich Licht und Dunkel sehen kann. Ich bin heller als Licht, weil ich das Licht empfangen kann. Und ich sehe die Dunkelheit, die durch mein Sehen nicht erhellt wird. Ich sehe diesen Kontrast. Ich sehe in diesen Kontrast und darf diesen Kontrast als gegeben sehen. Ich werde das Dunkel niemals erhellen. Dafür habe ich gar keine Zeit. Denn ich bin das, was hell und dunkel sieht. Ich gehe weit über Hell und Dunkel hinaus. – Was für eine Einsicht!


© Ben Hollenbach


Selbst Gott kann nichts tun. Aber Sehen.

Allein im Sehen wandelt es sich!

 

Das ist es, was mit Gott gemeint ist, dem „Vater“, der alles sieht. Und doch nichts tun kann! Und diesen Gott halten wir nicht aus. Weshalb wir uns einen mich meinenden Gott, einen Papa-Gott, einen mitfühlenden Gott, einen mit mir seienden Gott zusammenfantasieren. Einen Gott, an den wir glauben können und wollen. Einen Gott, zu dem wir ein persönliches Verhältnis haben. Dieser Gott ist ein Schatten des kleinen Menschen, der auf der Erde steht und nach oben schaut und nichts als Wolken sieht. Und sich eine Allmacht imaginiert, die in Wirklichkeit nichts für ihn tun kann. Nichts. Die Einsicht, dass Gott nichts für mich tun kann, ist eine riesengroße Einsicht, eine sehr befreiende Einsicht. Eine Einsicht, die mich meine Kleinheit verlieren lässt. Das kann ich einsehen. Ich sehe mich als diesen kleinen Menschen, der sich bemüht, der versucht alles richtig zu machen, der versucht sich selbst zu verstehen und es doch nicht kann.

 

Dieser kleine Mensch macht immer wieder alles falsch. Er glaubt eine Illusion nach der anderen, jagt einer Idee nach der anderen nach. Versucht und stolpert. Wieder und wieder. Und ich kann es sehen. Ich bezeuge. Diesen kleinen Menschen zu beruhigen, den ich sehen kann, dazu bin ich da. Das ist der Buddha unterm Bodhibaum: „Komm, setz dich hin. Schau. Koste von diesem Wasser. Höre den Vögeln zu. Sei still. Schau. – Ich bin bei dir näher als dein nächster Atemzug. – Das darf ich fühlen! Atmend fühlen. Näher als dein nächster Atemzug. So nah, dass ich es kaum entdecken kann. So nah bin ich als das, was Licht und Dunkel sehen kann. Ich kann diesen kleinen Menschen sehen, der die Wolkendecke nicht durchschauen kann und sich vergeblich müht, Einsicht zu gewinnen. Ich erstrahle in diesem Licht. Das ich bin. Wie die Erde im Licht der Sonne erstrahlt. Ich als dieser kleine Mensch werde mir bewusst, dass ich gesehen bin. Dass ich gefühlt bin. Dass ich anwesend bin. Tief, still, klar. Von mir selbst.

 

Und dann ist da dieser kleine Mensch, der das Leben so tut, wie er es versteht. Hier kann ich ihn sehen, hier in diesem Garten, auf dieser Bank, ihn, der den Vogel vielleicht noch nie gehört hat. Ich kann mich sehen. Und wenn ich mich sehen kann, dann höre ich plötzlich diesen Vogel. Dann sitze ich plötzlich in diesem Garten auf dieser Bank und werde mir bewusst, dass es so ist. Dann finde ich von hieraus in eine unbeschreibliche Weite. In eine unbeschreibliche, nicht mehr zu fassende, definitionslose Weite. Dann erlöse ich mich. Dann erlöst es sich. Und in dieser Weite spüre ich den Schmerz, spüre ich die Enge, spüre ich die Not. Wenn ich sie spüre. Ich mache daraus keine Probleme mehr. Keine neue Wolkendecke, die ich später wieder aufzulösen versuche. Weil ich jetzt verstehe, wie es sich verhält. Weil ich es sehe, einsehe, fühle. Weil ich ganz in dieser Erfahrung bin, die dieses Leben ist. Das wird mir jetzt bewusst.

 

Es gibt nichts zu suchen und nichts zu finden. Es gibt nur diese Anwesenheit, die ganz bei sich ist und darin alles entdeckt, was von hieraus entdeckt werden kann. Und entdeckt sein will. Ich habe es hier vollkommen mit mir selbst zu tun. Diese Berührung ist absolut intim. Über diese Berührung lässt sich nicht sprechen. Diese Berührung ist meinungsfrei, vorstellungsfrei, ideenfrei. Sie kann nicht interpretiert werden. Und diese Berührung ist das Zärtlichste und das Schmerzhafteste und das Direkteste, was es gibt. Wir können es vielleicht als das Neugeborene symbolisieren, und wir dürfen sehen, dass dieses Symbol tatsächlich das ist, was geboren wird. Das vollständig an sich selbst ausgeliefert ist. Nackt, darstellungslos, gedankenlos. Vollständig geöffnet. Hier gibt es keinen Sisyphus, der abwesend, gedankenlos immer wieder dasselbe tut. Ohne zu sehen, dass er es tun muss, weil er abwesend ist. Dass er es nur tut, weil er abwesend ist. Hätte Sisyphus einmal geweint, dann hätte sich der Stein augenblicklich (in ihm) aufgelöst. Aber so ist der Stein einfach immer schwerer geworden. Und Sisyphus ist dabei immer älter geworden. Und das ist sein Lohn. Nichts. Und das ist mein Lohn. Nichts. Kein Lohn. … Aber hier sehe ich den Vogel tanzen … Kein Lohn … Hier duftet es … So.